Über die Transkription seiner Sonaten für Gitarre  

Auszug aus einer Ausarbeitung zu diesem Thema von Michael Borner

Möglicherweise hätte er jedenfalls großes Interesse an der Gitarre, wenn wir in seinem Werk seine starke Hinwendung zur spanischen Folklore feststellen.  Bearbeitungen seiner Sonaten für Gitarre sind heute fester Bestandteil des barocken Gitarrenrepertoires. Aber es gibt und gab Unterschiede hinsichtlich der Bearbeitungs-Qualität. Festgestellt hat Michael Borner diese Problematik durch eine Untersuchung verschiedener Bearbeitungen im Rahmen seiner Hausarbeit zur Staatlichen Musiklehrerprüfung Ende der 80er Jahre. Aktuell ist immer noch die Frage, in wie weit solche Übertragungen die Authentizität des Originals erhalten können. Vielleicht sind die vorliegenden Ergebnisse auch für andere Transkriptions-Projekte nützlich.

Domenico Scarlattis Biographie

Leider ist uns sehr wenig überliefert worden, was Aufschluss über Domenico Scarlattis Leben geben könnte. In vielen Fällen ist man auf bloße Vermutungen angewiesen, da es keine Belege gibt. Seine einzigen persönlichen Äußerungen sind das Vorwort und die Widmung in den “Essercizi”‚ sowie ein Brief aus dem Jahre 1752. Die bis heute wichtigsten Zeitzeugen Scarlattis scheinen der Kastratensänger Carlo Broschi, genannt Farinelli‚ der Arzt Alexandre—Louis Laugier, und der englische Organist Thomas Roseingrave zu sein, deren Äußerungen über Scarlatti sich in den Reisebüchern des englischen Musikhistoriologen Charles Burney wiederfinden. Weitere Berichte über das Zusammentreffen mit Georg Friedrich Händel sind in der Händel-Biographie des Engländers J.Mainwaring‚ die schon 1760 erschien, enthalten. In unserer Zeit sind es vor allem die Nachforschungen Ralph Kirkpatricks*1)‚ denen, dargestellt in seiner umfangreichen Scarlatti—Biographie‚ zweifellos mehr Klarheit über Leben und Werk dieses Komponisten zu verdanken ist.

Domenico Scarlatti wurde am 26. Oktober 1685 als sechstes der zehn Kinder von Alessandro Scarlatti und Antonia Anzalone in Neapel geboren. Es ist anzunehmen, dass er seine musikalische Ausbildung durch den Vater erfahren hat, dessen musikalische Bedeutung zu seiner Zeit in Neapel überragend gewesen sein muss. 1701 wurde Domenico Organist und Komponist in der königlichen Kapelle von Neapel, komponierte bereits die Musik zu einigen Opern. Mit einem Empfehlungsschreiben seines Vaters an den Prinzen Ferdinando de’ Medici in Florenz ging er 1705 nach Venedig, wo er ein erstes Mal mit Georg Friedrich Händel zusammentraf, der nach Worten Mainwarings auch nach einem zweiten Zusammentreffen in Rom auf Scarlatti einen so großen Eindruck machte, dass dieser ihm durch ganz Italien nachfolgte. In Venedig lernte er außerdem den Komponisten Francesco Gasparini und den schon erwähnten englischen Organisten Thomas Roseingrave kennen, dem in erster Linie zu verdanken war, dass Scarlatti auch in England bekannt wurde. 1709 ging Scarlatti nach Rom, um die Tätigkeit als Kapellmeister der Königin Maria Casimira I von Polen aufzunehmen. Dort komponierte er eine Reihe von Opern für das kleine Theater im Palazzo Zuccari. Als die Königin 1714 Rom verließ, übernahm Scarlatti das Kapellmeisteramt beim portugiesischen Gesandten Marques des Fontes, 1715 zusätzlich das gleiche an der Cappella Giulia im Vatikan. Wahrscheinlich entstanden in dieser Zeit seine geistlichen Werke. Mit der Begründung, nach England gehen zu wollen, kündigte er 1719 seine Dienste.Es lässt sich jedoch nicht beweisen, dass er wirklich dort gewesen ist, um so mehr die Tatsache, dass er 1720 bereits Kapellmeister Joäos V. von Portugal war. Dort in Lissabon hatte er nicht nur die Aufgabe, eine umfangreiche Kapelle zu leiten, sondern auch den Bruder des Königs, Don Antonio, und besonders die Tochter, die Infantin Maria Barbara zu unterrichten. In der folgenden Zeit ist Scarlatti nur noch zweimal in Italien gewesen, 1724 in Neapel und 1728 zu seiner Hochzeit mit Maria Catalina Gentile in Rom. Als 1729 die Prinzessin Maria Barbara den Prinzen von Asturien und Sohn Philipps V. von Spanien, Ferdinand, heiratete, folgte ihr Scarlatti nach Spanien, zunächst nach Sevilla‚ 1733 dann nach Madrid, und den Residenzen der Umgebung: Buen Retiro, Pardo, Aranjuez, La Granja und Escorial. Am spanischen Hof machte er die Bekanntschaft mit dem schon erwähnten Sänger Farinelli, in dessen Schatten er offenbar gänzlich stand. 1738 wurde er durch Gesandte Joäos V. in den Ritterstand des portugiesischen Ordens von Santiago erhoben. Im folgenden Jahr, 1739, starb seine Frau Maria Catalina, die ihm fünf Kinder hinterließ. Er heiratete zu einem nicht bekannten Zeitpunkt, etwa zwischen 1740 und 1742, ein zweites Mal, und zwar die aus Cadiz stammende Andalusierin Anastasia Maxarti Ximenes, mit der Scarlatti vier weitere Kinder hatte. Während seiner Zeit in Spanien scheint er fast ausschließlich Musik für das Cembalo geschrieben zu haben, von der, soweit man weiß, kein einziger Autograph überliefert worden ist. Domenico Scarlatti starb 71-jährig am 23. Juli 1757 in Madrid.

Über die Sonaten

Es lässt sich leider nicht nachweisen, wann die Sonaten Domenico Scarlattis genau entstanden sind. Die erste datierbare Kompositionsgruppe bilden die 30 „Essercizi per Gravicembalo”‚ die 1738 von dem Pariser Drucker Le Clerc nachweislich gedruckt, und im selben Jahr entweder in Venedig oder in London erschienen sind. Diese “Essercizi” sind dem portugiesischen König Joäo V.‚ wahrscheinlich aus Dank für Scarlattis Erhebung in den Ritterstand gewidmet: ” Es sind Compositionen‚ die unter dem Schutz Eurer Majestät geboren sind, im Dienste Eurer verdientermaßen vom Glück begünstigten Tochter… „ Es könnte allerdings sein, dass diese Kompositionen, und vielleicht auch andere, schon lange vor ihrer Veröffentlichung entstanden sind, eventuell zu der Zeit, als Scarlatti noch in Lissabon direkt im Dienst des Königs stand. Den “Essercizi” wurden in den späteren Jahren noch eine Vielzahl von Stücken, allesamt als Sonate bezeichnet, in Form von fünfzehn handgeschriebenen Bänden hinzugefügt, die zur Unterhaltung und Freude der Königin Maria Barbara dienen sollten. Zwei dieser Bände wurden 1742 bzw. 1749 geschrieben, der restliche Teil erst 1752 bis 1757. Die fünfzehn Bände werden in der Biblioteca Marciana in Venedig aufbewahrt, und von Kirkpatrick als Handschrift Venedig bezeichnet; sie bilden mit insgesamt 496 Sonaten die Grundlage seines Verzeichnisses. Eine fast vollständige Kopie dieser Bände, die ebenfalls von 1752 bis 1757 entstanden ist, befindet sich als sogenannte Handschrift Parma in der Sezione Musicale der Biblioteca Palatina im Conservatorio Arrigo Boito zu Parma. Sie enthält 463 Sonaten, von denen allerdings zwölf in der Handschrift Venedig fehlen, welche, nach Kirkpatrick, als Scarlattis letzte gelten. Weitere Hauptquellen für drei, bzw. zwei Sonaten, die in den oben genannten nicht vorkommen, sind_die Handschrift Münster (Universitätsbibliothek)‚ das Worgan—Manuskript ( Britisches Museum London ), sowie die Handschrift im Fitzwilliam – Museum in Cambridge. Insgesamt ergibt sich nach Kirkpatricks Verzeichnis die Zahl von 555 Sonaten, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass das Verzeichnis durch bisher unentdeckte Sonaten erweitert werden könnte. Neben Kirkpatrick hat bereits um die Jahrhundertwende der Italiener Alessandro Longo ein Verzeichnis von 545 Sonaten aufgestellt, das allerdings die Reihenfolge, in der uns die Sonaten überliefert worden sind, außer Acht lässt. Es ist anzunehmen, dass die für die Königin bestimmte Handschrift die verlässlichste Quelle darstellt, da deren Anfertigung höchstwahrscheinlich von Scarlatti selbst überwacht wurde. Ein Rätsel bleibt allerdings, wo die Autographen dieser Sonaten geblieben sind; von seiner gesamten Cembalomusik existiert — soweit wir wissen — kein einziges Stück in seiner Urschrift. Alle Stücke, einschließlich der “Essercizi”‚ tragen den Titel “Sonate”. Häufig wird eine zusätzliche Bezeichnung verwendet, wie “Fuga”, “Pastorale”, “Aria”, „Capriccio”‚ “Minuet“ bzw. “Minuetto”‚ “Gavotta” oder “Giga”‚ um den Charakter des jeweiligen Stückes näher zu bezeichnen. Ursprünglich wurde der Begriff “Sonate” nicht als Bezeichnung einer Form, sondern, im Gegensatz zur “Cantata”, einem zu singenden Stück, als Bezeichnung eines Instrumentalstückes ( Klangstück ) verwendet. So entstanden bereits im l7.Jahrhundert die beiden mehrsätzigen Formen „Sonata di Chiesa”  (Kirchensonate) und “Sonata da Camera“ (Kammersonate), welche auch für Scarlattis Zeitgenossen noch sehr gebräuchlich waren. In den Anfängen wurden diese zunächst von mehreren Instrumenten ausgeführt, erst später auch von Soloinstrumenten. So taucht 1696 zum ersten Mal der Begriff “Sonate” als Bezeichnung reiner Cembalomusik bei dem deutschen Komponisten Johann Kuhnau (1660 – 1722) in seinem Werk “Frische Clavier—Früchte oder sieben Suonaten von guter Inventionund Manier” auf, 1700 in seinem Werk “Musicalische Vorstellung Einiger Biblischer Historien In 6. Sonaten auff dem Claviere zu spielen“. Auch sind als Beispiel die Sonaten Johann Sebastian Bachs für Violine Solo, Violoncello solo und Flöte solo zu nennen, so wie die Sonaten für Laute von Silvius Leopold Weiss. Alle dieser Sonaten sind jedoch, im Gegensatz zu denen Domenico Scarlattis‚ ausnahmslos mehrsätzig. Er verwendet in der weitaus überwiegenden Zahl die einsätzige Form, die fast ausnahmslos zweiteilig ausgeführt ist. Allerdings wird sich eine Suche nach zwei gegensätzlichen Themen, durch die sich die Hauptsatzform der klassischen Klavier-sonate, wie sie bei Haydn oder Mozart beispielsweise in Erscheinung tritt, bereits ankündigen würde, nicht lohnen. Scarlatti benutzt fast ausschließlich ein Thema, bzw. Sogetto, wenn man es so bezeichnen will, mit dem er zugleich die Sonate eröffnet. Dies wird im weiteren Verlauf imitiert, sequenziert oder motivisch verarbeitet, man könnte von einer Art thematischen Entwicklung sprechen. In manchen Sonaten spielt das Thema jedoch im übrigen Stück keine Rolle mehr, es wird zugunsten von attraktiveren Motiven nicht mehr aufgegriffen. An der Stelle, wo in der klassischen Klaviersonate ein zweites Thema auftreten würde, stellt Scarlatti dem Spieler oftmals eine technische Aufgabe, und zwar in Form eines Motivs, das nach mehrfachen Wiederholungen schließlich kadenziell in die Dominante geführt wird, die den ersten Teil sodann beendet. Dies kann allerdings auch mit mehreren verschiedenen Motiven oder Motivgruppen geschehen. Der zweite Teil beginnt meistens mit dem Thema oder seiner Umkehrung auf der Dominante, zuweilen aber auch mit einer evidenten Motivfolge des ersten Teils. Die Sonaten, die im zweiten Teil mit dem Thema begonnen werden, nennt Kirkpatrick geschlossene” Sonaten, diejenigen, dessen zweiter Teil nicht mit dem Thema begonnen werden, nennt er “offene” Sonaten. Die Gestaltung des zweiten Teils vollzieht sich oft mehr oder weniger parallel zu der des ersten, außer, dass gewisse Abschnitte ausgedehnter, zudem durch Modulation harmonisch reichhaltiger erscheinen. Nach einer Schlusskadenz endet die Sonate auf der Tonika. Bei Stücken, die in einer Molltonart stehen, endet der erste Teil auch gelegentlich auf der Durparallele, mit der dann dementsprechend der zweite Teil begonnen wird. Ein typisches Stilmittel, das Scarlattis Sonaten unverwechselbar mit den Cembalowerken seiner Zeitgenossen macht, ist die mehrfache Wiederholung einer Phrase. Als Gegenpol zu der nicht wiederholten fungierend, erreicht Scarlatti häufig, wie Kirkpatrick bemerkt, einen ziemlich starken Kontrast zwischen dem – im weiteren Sinne – Ruhenden und dem Bewegten”* (Beisp.2).

Dieser Gegensatz, der zwischen der“ wechselnden Symmetrie und Asymmetrie des Periodenbaus herrscht, verleiht den Sonaten eine sonderbare Spannung.

“Indem viele kurze Phrasen mit einer ausgedehnten kontrastiert werden, durch die asymmetrische Aneinanderreihung unregelmäßiger Phrasen, durch Erweiterungen und Zusammenziehungen erreicht Scarlatti kühne rhythmische Wirkungen“ *2). In der Klaviermusik des frühen 18. Jahrhunderts drückte ein Satz für gewöhnlich nie mehr als eine Stimmung aus, verschiedene Stimmungen wurden deutlich voneinander abgegrenzt, indem sie auf mehrere Sätze verteilt wurden. Durch Scarlatti erfährt der einzelne Satz jedoch eine Weiterentwicklung: oft wird der begonnene Stimmungscharakter eines Stückes nicht, wie gewohnt, bis zum Schluss beibehalten, sondern innerhalb des Satzes geändert. Es ergeben sich dadurch scharfe Kontraste, die sich unter anderem durch einen plötzlichen Dur-Moll – Wechsel (Beisp.3)‚

 

einer überraschenden Verkleinerung der Notenwerte (Beisp.4),

oder einen raschen Wechsel von scheinbarer Monotonie in lebhafte Abwechslung (Beisp.5) äußern.

 

Möglicherweise hat dies seinen Ursprung in der Tatsache, dass Scarlatti mit der italienischen Opernkomposition bestens vertraut war — er hatte sie schließlich in jungen Jahren reichlich praktiziert — und ihr Prinzip der verschiedenartigen Darstellung von Charakteren auf seine einsätzige Sonatenform zu beziehen versuchte. Ebenfalls ist man häufig dazu geneigt, den Wechsel zwischen Solo und Tutti, wie er im Concerto Grosso üblich war, wiederzuerkennen (Beisp.6),

 

manchmal sogar die Imitation eines gesamten Orchester mit den zahlreichen Nuancierungen seiner Instrumentengruppen. Eine ‚imaginäre‘ Instrumentierung wird forciert. Darauf, dass Scarlatti in seinen Sonaten aber nicht nur Einflüsse der Opern— oder Orchestermusik seiner Zeit verarbeitete, deutet eine Äußerung im Reisebericht von Charles Burney hin: “In Scarlattis Stücken finden sich manche Stellen, worin er die Melodie solcher Lieder nachahmt, die er von Fuhrleuten, Maultiertreibern und anderen gemeinen Leuten hatte singen gehört.” *3) Mit Sicherheit ist der Einfluss der spanischen Folklore, die schon damals durch die Musik der Mauren und Zigeuner geprägt war, der wesentlichste, der Scarlattis Musik eine Sonderstellung in der Reihe der Cembalomusik im l8.Jahrhundert einnehmen lässt. Dieser Einfluss ist unter anderem zunächst an der häufigen Verwendung des phrygischen Tetrachordes a — g — f — e festzumachen, der als Grundgerüst einer modalen Harmonik bestimmter Abschnitte erscheint, in denen die Generalbassharmonik der barocken Tradition möglicherweise Scarlatti nicht mehr auszureichen vermochte. Der genannte Tetrachord, der ein wesentlicher Bestandteil zum Beispiel der andalusischen Flamencomusik war, bzw. ist, ist in Scarlattis Sonaten häufig anzutreffen, wenn auch in anderen Tonarten oder in einer etwas abgewandelten Gestalt (Beisp.7).

 

Der Einfluss der spanischen Folklore ist aber auch deutlich an der Gestaltung des Rhythmus zahlreicher Sonaten zu erkennen. Keine Seltenheit ist hierbei die Verwendung beispielsweise von Malaguena—‚ Fandango—, Bolero— oder Jota—Rhythmen. Daneben findet sich in den Sonaten ein großer Reichtum an gitarristischer Figuration und Akkordik‚ ferner der Gebrauch sogenannter Falsetas‚ virtuosen Gitarreninterludien aus dem Flamenco, die als Improvisationen zwischen den Gesangspausen eingelegt werden und deren auffallendes Merkmal eine von Quinten und Quarten strukturierten Akkordik ist, entweder in Form eines Rasgueado oder Punteado.*4)

Über den Einfluss insbesondere der spanischen Gitarre in den Sonaten Scarlattis schreibt Kirkpatrick: “Soweit wir wissen, spielte Scarlatti selbst nicht Gitarre, aber kein Komponist geriet wohl stärker in ihren Bann als er. In der spanischen Tanzmusik bilden ihre leeren Saiten oft einen Orgelpunkt. Ihre arpeggierten Figuren erwecken eine Art berauschender Monotonie. Gewisse heftige Dissonanzen scheinen das Geräusch nachzuahmen‚ das sich beim Schlage mit der Hand auf das Korpus der Gitarre ergibt, oder den Klang barbarischer Akkorde, die fast die Saiten zu sprengen drohen. Sogar die harmonische Struktur vieler solcher Stellen, die die Gitarre nachahmen, werden wohl von den leeren Saiten und ihrer vorzüglichen Eignung für die modale spanische Volksmusik bestimmt. Beim Überschlagen der Hände, wenn die linke Hand nach oben springt, hat man oft den Eindruck, als ob sie nach der Sangsaite griffe‚ um dann gleich wieder die leeren Basssaiten in Schwingung zu versetzen. Scarlattis oktavierte Bässe stellen oft nur die Obertöne der tiefen Gitarrensaiten dar, wie in Sonate 26. Über die auffallenden Eigenschaften hinaus, die das Cembalo mit der Laute und Gitarre gemeinsam hat, muss besonders die spanische Gitarre auf Scarlattis Cembalostil einen tiefreichenden Einfluß ausgeübt haben. Fortschreitungen, wie sie sich auf der Orgel in konsequenter und herkömmlicher Stimmführung darstellen lassen, müssen auf der Gitarre und Laute in fragmentarischer Annäherung aufgebrochen werden (vgl. dazu die Lautentranskriptionen vokaler Stücke aus dem l6.Jahrhundert). Spielbare Akkorde und.die Stimmung der leeren Saiten werden wichtiger als abstraktere Gesetze. Die Akkorde sind nicht mehr Verschmelzung gleichzeitig erklingender Stimmen; sie werden vielmehr zu ‘Stützpunkten’ der Tonalität, wie jeder erfährt, der einmal zu Gitarrenbegleitung singt. Die leeren Saiten ermöglichen Orgelpunkte und verlocken sogar dazu, sie verleiten auch zum Ineinanderziehen verschiedener Harmonien. Etwas vergleichbares gibt es bei Bach nur in den polyphonen Stücken für Solovioline‚ aber auch hier behält Bach — vielmehr als Scarlatti – eine strenge horizontale Stimmführung bei, wenn auch manchmal nur noch zum Schein. Denn trotz seines unübertroffenen Sinnes für Tonalität sind für Bach auch in den Stücken für Solostreicher und in Werken wie der Chromatischen Fantasie Akkorde nur das unausweichliche Produkt horizontalen Stimmgeschehens. Für Scarlatti sind sie frei verteilbare Tonalitätseinheiten,für die die einfachen Elemente einer vokalen Verbindung vollauf genügen.” *5)

Es sind verständlicherweise gerade diese “Stellen, die die Gitarre nachahmen”‚ die den Gitarristen an eine Bearbeitung Scarlattis Sonaten für die Gitarre denken lassen, zumal er, wie schon erwähnt, sowieso auf Bearbeitungen bezüglich der Barockmusik angewiesen ist. Die Stellen, von denen hier die Rede ist, sind sogar teilweise so angelegt, dass sie keiner oder kaum einer Veränderung bedürfen, um sie auf der Gitarre spielbar zu machen (Beisp.8).

 

Jedoch bestehen die Sonaten natürlich — aus Sicht des Bearbeiters leider — nicht ausschließlich aus diesen gitarristischen Elementen, sondern auch, und dies oft direkt daneben, aus mehr oder weniger streng polyphon gearbeiteten oder cembalo-typischen Abschnitten, die nicht ohne weiteres auf der Gitarre umgesetzt werden können.

Denn auch hier benutzt Scarlatti wieder gegensätzliche Elemente: zum einen, eine Stilisierung der aus Sicht der höfischen Kunstmusik exotischen spanischen Volksmusik mit seinen unverkennbaren Einflüssen der Mauren und Zigeuner, zum anderen, die von ihm zweifellos beherrschte Tradition des strengen Vokalsatzes, die in den Werken seiner Zeitgenossen neben der Homophonie der Liedbegleitung aus der Operntradition üblicherweise vorherrschend war.

Möglicherweise war Scarlatti als Lehrer und Cembalist der Königin von Spanien so beliebt, dass er eine gesicherte Stellung innehatte, und es demzufolge nicht nötig hatte eine Musik zu schreiben, die einer eingrenzenden Norm, im Sinne übermäßiger Traditionsgebundenheit hätte entsprechen müssen. Er konnte offensichtlich experimentieren und dem Bedürfnis nachgeben, in seiner Musik auch für die Kunstmusik dieser Zeit allgemein ungewöhnliche Elemente zu verarbeiten. Häufig bleibt es allerdings nicht bei Adaptionen, er durchbricht darüberhinaus die Grenzen des strengen Satzes und seiner Modulationstechnik. Nicht selten ignoriert er beispielsweise die Regeln des Quint— und Oktavparallelenverbotes (Beisp.l0),

 

der aufzulösenden Vorhalte (Beisp.11),

 

oder der eingeschränkten Dissonanzbehandlung (Beisp.l2).

 

Auch wird unzählige Male die Generalbassharmonik erweitert oder aufgegeben. Scarlatti findet keine Verwendung für diese Regeln, wenn sie seinen Inhalten hinderlich sind, sie haben dann keine Bedeutung mehr.

Dies entspricht allerdings auch der historisch — geistigen Tendenz, sich in zunehmender Weise von Autoritäten, wie die Gesetze von Staat oder Kirche, die immer häufiger als Vorurteile, unbegründete Konventionen und zugleich als Erstarrung gedeutet wurden, loszulösen. Die in Frage gestellte Gültigkeit dieser Gesetze führte parallel dazu zwangsläufig in eine Art Opposition zu den Stilidealen des Hochbarocks, deren überwiegende Musik sich noch eng an der strengen Vokalpolyphonie orientierte. Diese aufklärerischen Tendenzen zeigen sich jedoch in der ersten Hälfte des l8.Jahrhunderts auch bei Jean—Phillipe Rameau‚ Georg Friedrich Telemann, Georg Friedrich Händel und den Bachsöhnen Phillip Emanuel und Johann Christian, die als Wegbereiter und teilweise als einige der wichtigsten Vertreter des “galanten” und später auch “empfindsamen” Stils des musikalischen Rokkoko zu nennen wären. Deutlich zeigte sich Scarlattis Intention seiner Arbeit, wenn wir dem Bericht des Charles Burney Glauben schenken dürfen: Scarlatti sagte zu Herrn L’Augier, er wisse recht gut, dass er in seinen Clavierstücken alle Regeln der Composition bey Seite gesetzt habe, fragte aber, ob seine Abweichung von diesen Regeln das Ohr beleidigte?, und auf die verneinende Antwort fuhr er fort, er glaube, es gäbe fast keine andere Regel, worauf ein Mann von Genie zu achten habe, als diese: dem einzigen Sinne, dessen Gegenstand die Musik ist, nicht zu missfallen.” *6)

Das Vorwort zu den Essercizi, das die einzige überlieferte Äußerung Scarlattis über seine Musik darstellt, unterstützt allerdings die Authentizität dieser, von Burney protokollierten Bemerkung:

“Leser, wer du auch seist, Liebhaber oder Professionist, erwarte in diesen Kompositionen keine tiefsinnigen musikalischen Gedanken, vielmehr ein heiteres‚ erfindungsreiches Spiel der Kunst (non il profondo intendimento, ma bensi lo scherzo ingegnoso dell’Arte), um dir Sicherheit und Freiheit auf dem Cembalo zu geben. Weder Vorteil noch Ehrgeiz haben mich dazu bestimmt, sie zu veröffentlichen, sondern allein der Gehorsam. Vielleicht gefallen sie dir, in diesem Falle verpflichte ich mich, deiner Muße noch mit weiteren Stücken von leichterer und mannigfaltigerer Art angenehm zu sein, zeige dich mehr als Mensch wie als Kritiker, und du wirst um so mehr Vergnügen davon haben. Um dir die Verteilung der Hände klar zu machen, teile ich dir mit, dass ich mit einem D (diritta) die rechte Hand, mit einem M (manca) die linke Hand bezeichnet habe. Leb’wohl! ” *7)

Was Scarlatti mit einem “heiteren, erfindungsreichen Spiel der Kunst” anstelle von “tiefsinnigen musikalischen Gedanken” umschreibt, könnte man gleichermaßen als Abkehr von überholten Stilidealen der barocken Tradition deuten, die in ihrer kontrapunktisch komplizierten Form als auf dem Papier “konstruierte” Musik den “wahren Gefühlen” der Zeit nicht mehr Rechnung tragen konnte. Hier zeigt sich vielmehr das Ideal des gefühlsbetonten Menschen als Gegensatz zu dem des rationalistisch denkenden: “…zeige dich also mehr als Mensch wie als Kritiker, und du wirst um so mehr Vergnügen davon haben.” Darauf, dass Scarlatti mit seinen Essercizi auch pädagogische Intentionen verfolgte, weist die Bemerkung hin, dem Spieler “Sicherheit und Freiheit auf dem Cembalo zu geben”. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Begriffe “Sicherheit” und “Freiheit” eher in Bezug auf das musikalische Gefühl zu verstehen sind, weniger als Hinweis über den spieltechnischen Standard seiner Stücke. Dies ergäbe bei dem Ausmaß virtuoser Klaviertechnik, die er beispielsweise in den Essercizi K.lO‚ K.24 oder K.29 dem Spieler abverlangt, auch wenig Sinn. Mit Oktavverdoppelungen, auf beide Hände verteilten Repetitionen, der Sprung- und Überschlagstechnik oder dem Verharren im überkreutzten Spiel beider Hände, um nur einige Beispiele zu nennen, stellt er auch in den übrigen Sonaten den Spieler vor technische Probleme, die für die Klaviertechnik seiner Zeit relativ ungewöhnlich waren. Wie dem auch sei, die Stücke bekommen dadurch ein hohes Maß an Brillianz verliehen, dem Spieler wird die Möglichkeit geboten, Virtuosität zu zeigen. Nicht zuletzt aufgrund seiner Klangähnlichkeit kommt die Gitarre bei der Verwirklichung dieser Brillianz dem Cembalo sehr nahe, eine sorgfältige Transkription vorausgesetzt. Kirkpatrick bemerkt: Obwohl Scarlatti ein Cembalokomponist par excellence ist, obwohl fast seine gesamte Tastenmusik für die spezifischen Eigentümlichkeiten des Kielflügels geschrieben wurde, lässt sich alles, was außer den Klangwirkungen zur Darstellung seiner Musik erforderlich ist, auf beinahe jedes Instrument übertragen.” *8)

*1) Ralph Kirkpatrick, Domenico Scarlatti Bd.I+II, H.Ellermann, München 

*2) R.Kirkpatrick, Domenico Scarlatti, Band I, S.186 ** Ebenda, S.186

*3) C.Burney, The Present State of Music in Germany, Bd.I, Seiten 247 — 249; Ebeling II, Seite 184. 

*4) Eine ausführliche Untersuchung über das spanische Idiom in Scarlattis Cembalomusik liefert uns Barbara Zuber in ihrem Aufsatz “Wilde Blumen am Zaun der Klassik”, Musikkonzepte 47, Domenico Scarlatti, Edition Text + Kritik

*5) R.Kirkpatrick, Domenico Scarlatti, Band I, S.235 ff

*6) C.Burney, Tagebuch einer musikalischen Reise, S.282

*7) J.Subira‚ La musica en la Casa de Alba, Estudios historicos y biographicos, Madrid 1927, S.129 ff.

*8) R.Kirkpatrick‚ Domenico Scarlatti‚ Band I, S. 311

Hinsichtlich der von mir untersuchten Bearbeitungsbeispiele lässt sich zweifellos feststellen, dass hier mehrheitlich gar kein Anliegen existierte, mit der Transkription eine Treue zum Originaltext zu verbinden. Eine Kritik daran, die (wie diese) von einem anderen Standpunkt, und zwar dem einer möglichst authentischen Umsetzung ausgeht, kann daher, wenn sie sachdienlich sein soll, nicht mit der Beurteilung des Endergebnis einer aus anderer, inneren Überzeugung entstandenen Arbeit abschließen. Es sollte vielmehr ihre Aufgabe sein, nach den Ursprüngen der jeweiligen Intentionen zu fragen und sie zu diskutieren, das heißt, die Standpunkte zu klären und sie nach ihrer Relevanz hin zu untersuchen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass allein die Diskussion um Transkription selbst ebenso als Station einer musikgeschichtlichen Entwicklung (vor allem in Bezug auf die Gitarre) aufgefasst werden kann, wie die verschiedenartigen Intentionen, die Bearbeitungen im allgemeinen beinhalten. So kann, um den Sachverhalt zu konkretisieren, beispielsweise nicht am Sinn einer Bearbeitung mit pädagogischem Anliegen, dessen deutlichste Merkmale die Reduktion eines Satzes und ein weniger der Musik als der Spielbarkeit dienlicher Fingersatz sind, gezweifelt werden, wenn ihre Funktion aus Gründen der Unvereinbarkeit eher der didaktischen als der ästhetischen entspricht. Jedoch gibt es kaum gelungene Beispiele dieser Form, die meisten von ihnen sind mit Zusätzen, Veränderungen stilistischer Art oder anderen kompositorischen Eingriffen versehen, die fast immer die Logik und strukturelle Geschlossenheit eines Stückes zerstören oder zumindest unkenntlich machen. Das eigentlich lobenswerte pädagogische Anliegen dieser Bearbeitungen hat außer dem repertoire- erweiternden Aspekt allerdings auch einen historischen Grund: das ‘künstlerische’ Gitarrenspiel fand bekanntlich in der ersten Hälfte technisches Niveau, das beispielsweise dem eines guten Geigers oder Pianisten ungefähr entsprach. In den Stücken musste daher, wenn sie veröffentlicht werden sollten, der entwicklungsbedürftige technische Standard des Gitarrenspiels berücksichtigt werden, sogar auch dann, wenn es sich um Originalkompositionen handelte. Erst mit der zunehmenden Verbreitung des ‘künstlerischen’ Gitarrenspiels und der dadurch größer werdenden Zahl bedeutender Spielerpersönlichkeiten gewann der interpretatorische Aspekt des Fingersatzes, und damit die Möglichkeit individueller Ansätze in unterschiedlichster Form, mehr und mehr an Bedeutung. Die heutzutage in Bezug auf die Spieltechnik bestehende Vielfalt von Ansätzen ist das Zeugnis einer solchen Entwicklung. Die Bearbeitungspraxis stand währenddessen vollkommen in der Tradition der Romantik, Bearbeitungen im Stile von Schumann, Liszt oder Busoni beispielsweise waren durchaus üblich. Diese bestanden vor allem aus harmonischen Ergänzungen oder melodische Veränderungen, wodurch sich die Stücke vermutlich besser in die, an den Konzertprogrammen etablierter Instrumente orientierte Programmgestaltung integrieren ließen, und so der Erweiterung des Repertoire dienen konnten. Es war scheinbar unmöglich und auch gar nicht beabsichtigt, den zumeist abstinenten Charakter eines barocken Satzes mit den dominierenden romantischen Stilidealen der Zeit, unter denen die Üppigkeit des Klangbildes eines der wesentlichsten ist, zu vereinbaren. Ganz im Gegenteil: die Bearbeiter waren offensichtlich davon überzeugt, durch diese Transkriptionsweise die originalen Stücke zu verbessern. Diese zu Gewohnheit gewordene Bearbeitungspraxis hat sich bis heute immer noch erhalten. In diesem Zusammenhang wäre der aus einem Interview entnommene Kommentar*9) des Bearbeiters Jose de Azpiazu zu nennen, der sich auf die Originaltreue einer Transkription bezieht: „Darin (in der Originaltreue) liegt nicht das Wesentliche. Bei meinen Übertragungen gibt es Stücke, wenn ich darin etwas geändert habe, dann um sie besser zu machen. Die Transkription ist nicht nur Transkription, es gibt einen Teil Komposition darin, denn beim Übertragen gibt es Dinge, die man nicht verwirklichen kann, und dann mache ich sie auf andere Weise und im allgemeinen besser. Denn sehen Sie, selbst bei Bach — im “Prelude” der ersten Cello-Suite – habe ich Noten hingesetzt, die er nicht hat — und viel besser als er!”

Diese recht freimütige Stellungnahme formuliert, wenn auch in extremer Weise, gewiss, und das würde durch unzählige Beispiele bestätigt, die wesentlichen ästhetischen Intentionen einer ganzen Bearbeitungs— Epoche. Die Gültigkeit eines Werkes in seiner ursprünglichen Form über die Zeit seiner Entstehung hinaus wird in dieser Art von Kunstauffassung vollkommen ignoriert; dass die jeweiligen musikalischen Epochen vergangener Jahrhunderte in ihrer ideellen Eigenständigkeit, die immer erst aus dem Bezug auf das Vergangene entstehen kann, eine gewisse Gleichwertigkeit besitzen, hat hier keinerlei Bedeutung: die Stilideale der eigenen Zeit werden als Maßstab der Musikgeschichte missbraucht. Die fehlende Bereitschaft, sich mit der Gedankenwelt einer vergangenen Epoche auseinanderzusetzen, und das hieße, ihre Authentizität erst einmal anzunehmen und bei einer Übertragung zu wahren, lässt an dem tieferen Verständnis der bearbeiteten historischen Musik zweifeln. Bei der Betrachtung der großen Menge an verschiedenartigstenTranskriptionen für Gitarre, die ungefähr in den letzten fünfzig Jahren veröffentlicht wurden, gelangt man zu der Annahme, dass im allgemeinen der Grad der Veränderung in einer Bearbeitung darüber Auskunft gibt, wie viel vom Inhalt des Originals verstanden worden ist, beziehungsweise, wie viele Qualitäten erkannt worden sind. Das soll heißen: je größer die Zahl der vorgenommenen Veränderungen ist, desto größer scheint auch das Defizit an inhaltlichem Verständnis zu sein und umgekehrt. Denn das Bedürfnis nach authentischer Umsetzung wächst mit dem Erkennen inhaltlicher Details im Original. Je weniger sich diese inhaltlichen Details aufgrund vielzähliger, wenn auch notwendiger Veränderungen umsetzen lassen, desto weniger Sinn hat eine Transkription, da das Stück in seiner entstandenen Oberflächlichkeit keine Möglichkeit des tieferen Eindringen in die Materie mehr bieten und damit einen künstlerischen Anspruch nicht mehr erfüllen kann. Wie auch immer, die subjektive Betrachtungsweise der Musikgeschichte aus der eigenen Zeit heraus lässt sich nicht verhindern, was jedoch kein Grund dafür sein sollte, in schon bestehende ästhetische Einheiten zu dringen und sie zu zerstören. Der destruktive Charakter, mit dem das Produkt einer solchen Kunstauffassung behaftet ist, lässt sich nicht verbergen, so dass damit eigentlich nicht zu einer ästhetischen Eigenständigkeit der eigenen Zeit beigetragen werden kann. Die nicht zu verhindernde Subjektivität, die in gewisser Weise immer vom Zeitgeist geprägt ist, hat ihren Platz vielmehr in der Interpretation, im Beleben der vorgegebenen Strukturen, die in ihrer schriftlich fixierten Form als noch leblose Information existieren. Dort gelangt sie in ihrer individuell verschiedenen Ausprägung an den Punkt der Kommunikation, dem ursprünglichen Grund des Musizierens‚ denn durch die Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Auffassungen wird ein Zustand der Lebendigkeit geschaffen, aus dem sich erst eine Weiterentwicklung zu Neuem vollziehen kann. Die Integration der Subjektivität in struktureller Form kann daher nur im Komponieren neuer Werke erfolgen.

Mag also eine Bearbeitungspraxis des Umarbeiten historisch gesehen ein wichtiger Anpassungsprozess der Gitarre in das Konzertwesen gewesen sein, so ist sie heutzutage eher ein Rudiment, das leicht die gegenteilige Wirkung als die ursprünglich gedachte erzielen kann: Zweifel an der Seriösität des Instruments.

Die rasante Entwicklung der Gitarrentechnik gerade in den letzten Jahrzehnten scheint jedoch solche Bearbeitungen, die fast immer eine Verknüpfung des didaktischen Aspekts mit einer Art ‘Stilkorrektur’ verkörpern, überholt zu haben. Die dort zumeist vorausgesetzte Unmündigkeit der Gitarrenlernenden entspricht immer weniger der realistischen Situation und ist daher als Standpunkt letztendlich nicht mehr haltbar. So fungieren sie höchstens als moralische Begrenzung in Bezug auf die Experimentierfreudigkeit mit Transkriptionsmöglichkeiten‚ wodurch die Entwicklung einer eigenständigen ästhetischen Beurteilungsfähigkeit eines Lernenden verhindert wird. Der Drang nach Authentizität forciert jedoch Lösungen für technische Probleme, die vor einiger Zeit für unlösbar gegolten haben. So entstehen mehr und mehr textkritische Transkriptionen, deren Schwierigkeitsgrad dann auch häufig zum Gegenstand der Kritik gemacht wird, da der pädagogische Aspekt dabei außer Betracht bleibt. Hier entscheidet die Selbsteinschätzung eines jeden Spielers darüber, inwieweit die vorliegende Transkription realisierbar ist. Lag die Verantwortung bisher bei den Bearbeitern‚ so liegt sie jetzt mehr oder weniger bei dem Ausführenden. Es ist anzunehmen, dass aus diesem Grunde bei den Gitarristen die Tendenz zunimmt, eigene Bearbeitungen herzustellen. Durch eine textkritische Bearbeitung, sei es eine eigene oder nicht, durchläuft das Stück jetzt, durch das Wegfallen einer starken Bearbeitungs— Zensur, nur noch einen wesentlichen Filter, und zwar den der Interpretation. Erkennt man die textkritische Transkriptionsmethode als Resultat einer Weiterentwicklung der heutigen Zeit an, so lassen sich aus den untersuchten Bearbeitungsbeispielen Kriterien ableiten, die zur Herstellung einer zeitgemäßen Transkription dienen können; die folgende Auflistung von Bearbeitungsschritten soll der Versuch einer sinnvollen Ordnung dieser Kriterien sein:

1. Wahl der Quelle

Als Bearbeitungsvorlage sollte man nur das Autograph oder die Urtextausgabe benutzen, bei Scarlatti die Handschriften (Faksimile) oder ihre kritische Gesamtausgabe. Klavierausgaben eignen sich, auch wenn sie wie bei Longo eine Gesamtausgabe darstellen, nur schlecht als Vorlage, da sie nicht selten Abweichungen vom Urtext oder Zusätze des Herausgebers beinhalten und die paarweise Anordnung der Sonaten nicht berücksichtigen, die für die Aufführung bearbeiteter Sonaten der mittleren, sowie späteren Schaffensperiode Scarlattis jedoch von Bedeutung sein könnte (Vgl. die Transkription der Sonaten K.333/334/335 und 336 von David Tannenbaum, erschienen bei Guitar Solo Publications, San Francisco, 1986).

2. Abschätzen der Realisierbarkeit einer Transkription

Die Transkription vieler Cembalowerke, so auch einiger Sonaten Scarlattis‚ ergäbe aufgrund zu vieler Unmöglichkeiten bezüglich der technischen Umsetzung keinen Sinn. Die größten und eigentlich unlösbaren Probleme stellen in erster Linie gleichzeitige Läufe in der rechten und linken Hand, sowie Sogetti mit einem Ambitus über zwei Oktaven, die in der Regel noch in einer tieferen Oktavlage beantwortet werden, dar. Weitere Probleme lassen sich durch teilweises oder vollständiges Durchspielen der Originalnotation feststellen.

3. Übertragen in den Gitarrenschlüssel

Hat sich bei der Durchsicht des Stückes herausgestellt, dass sich eine Transkription lohnt, sollte das zu bearbeitende Werk zunächst ohne Veränderungen in den Gitarrenschlüssel, also eine Oktave tiefer übertragen werden. Auch unmöglich oder scheinbar unmöglich umsetzbare Stellen sollten erst einmal original übernommen werden.

4. Feststellen der unbedingt notwendigen Veränderungen

Scheinbar unbedingt notwendige Veränderungen lassen sich sehr oft durch die Transposition des Stückes in eine günstigere Tonart, durch Umstimmen der 6. Saite nach D oder beides umgehen. Es sollte also erst geprüft werden, ob eine andere Tonart für die Umsetzung des Stückes auf der Gitarre nicht günstiger ist, bevor man Veränderungen vornimmt. Für eine Transposition eignen sich besonders die Tonarten G—‚ D—, A— und E—Dur‚ sowie a—‚ e- und d-moll‚ da sie die Benutzung mehrerer Leersaiten ermöglichen. Aufgrund des in fast allen Stücken bestehenden zu großen Ambitus beziehen sich die notwendigen Veränderungen in erster Linie auf die vollkommene oder teilweise auszuführenden Oktavierung einzelner oder mehrerer Stimmen. Das Verringern des Ambitus würde zwangsläufig durch die Oktavierung einer der beiden Außenstimmen erreicht, wobei jedoch die Oberstimme als Melodie- und somit Orientierungslinie der meisten Sonaten ausser Betracht bleiben muss und so zunächst nur die Bassstimme betrifft. Weitere Oktavierungen in anderen Stimmen ergeben sich zumeist aus der Bassoktavierung, auch die gelegentliche Oktavierung aller übrigen Stimmen. Bei der Oktavierung einzelner Stimmen muss jedoch unbedingt der Phrasenaufbau berücksichtigt werden, damit die Einheit einer Phrase erkennbar bleibt.

Eine häufig notwendige Veränderung stellt in zweiter Linie die Reduktion eines Akkordes oder die Oktavierung in seinen Mittelstimmen dar. Dabei sollte sich die Reduktion entweder auf ohnehin doppelt vorkommende oder den Klang nicht entscheidend beeinflussende Töne beziehen, oder auf solche, die in unmittelbarer Nähe in anderen Stimmen ohnehin zu finden sind. Wichtig hierbei ist jedoch die Identifizierung von Acciaccaturen, damit die dissonanten Töne nicht als akkord-zugehörig gedeutet werden und bei der Reduktion anstelle der eigentlich wichtigen Töne stehen. Der durch die Acciaccaturen erzielte Effekt auf dem Cembalo lässt sich auf der Gitarre fast immer mit einem Rasgueado erzeugen.

5. Festlegen des Fingersatzes

Bevor der Fingersatz festgelegt wird, sollte die veränderte Fassung erst sehr oft gespielt werden, damit sich die Vorstellung über seine Gestaltung unter interpretatorischen Gesichtspunkten entwickeln kann. Der Fingersatz besonders schwieriger Stellen sollte später festgelegt werden als der übrige, so dass sich eventuell mehrere Möglichkeiten ergeben können, bis sich eine als die praktikabelste erweist. Der Gebrauch von Bindungen, ob im traditionellen Sinne als Aufschlag bzw. Abzug oder als ‘Pedal— Effekt’ über zwei oder mehrere Saiten, sollte sich nach der Analogie der motivischen Gestaltung richten, um die Logik des Materials zu verdeutlichen.

6. Verzierungen

Die Ausführung der Verzierungen in den Sonaten Scarlattis lässt dem Spieler sehr viel Freiraum, da seine Zeichen ‚tr’ und    sehr wenig über die Art des Trillers aussagen, bis auf die Zeichen ‘tre’ oder ‘tremulo’, deren Ausführung als längerer Triller oder Trillerkette in den meisten Fällen als sinnvoll erscheint. Besonderheiten, wie Nachschläge, Mordent‚ Schleifer oder Acciaccaturen sind fast immer ausgeschrieben, kurze oder lange Vorschläge (Apoggiatura) dagegen seltener, die triller-einleitenden kurzen Vorschläge werden jedoch immer als kleine Note vor der Hauptnote gekennzeichnet. So hängt die Schnelligkeit und Art der Triller- Ausführung unter Berücksichtigung von Tempo und Charakter des Stückes ganz und gar vom Geschmack des Spielers ab.

Ein grandioses Beispiel phantasievoller Ausführung der scarlattischen Verzierungen stellen zahlreiche Interpretationen namhafter Cembalisten dar. Um auf der Gitarre eine ähnliche Brillianz zu erreichen, ist, wenn es im Zusammenhang technisch möglich ist, ein Verteilen der beteiligten Töne auf verschiedene Saiten notwendig. Das hat allerdings zur Folge, daß die rhythmische Gestaltung des Trillers‚ sowie der Fingersatz der rechten Hand exakt festgelegt werden muss‚ da die Begleitung und Triller- Stimme nicht, wie beim Cembalo üblich, auf zwei Hände verteilt und damit unabhängig voneinander ausgeführt werden können, sondern als Einheit von einer Hand bewältigt werden müssen.

*9) aus der Fachzeitschrift ‘Gitarre und Laute’ 3/87 S.15.

Einige Möglichkeiten solcher Verzierungsausführung sollen folgende Beispiele verdeutlichen:

Triller

 

Stütztriller

       

Triller mit Nachschlag

 

Mordent

 

Die Verzierungsbeispiele sind auszugsweise dem ‘Handbuch der Gitarre und Laute’ von Konrad Ragossnig*10) entnommen, in dem jedoch auf die Darstellung der technischen Ausführung verzichtet wird. Ihre Aufzählung ließe sich selbstverständlich um ein Vielfaches erweitern, sie soll hier nur einige für die Gitarreninterpretation der Scarlatti— Sonaten gebräuchlichsten Verzierungstypen enthalten (ein wichtiger Hinweis für die Ausführung: wenn der Zielton erreicht wird, sollten diejenigen Finger der linken Hand, die Dissonanztöne abgreifen, abheben, so dass die Töne nicht durchklingen. Dadurch bekommen die Verzierungen einen höheren Grad an Exaktheit und wirken brillianter. Leere Saiten sollten dabei, wenn möglich, mit Fingern der rechten Hand abgedämpft werden).

*10) erschienen bei B.Schott’s Söhne, Mainz, 1978.

7. Paarweise Anordnung

Eine Vielzahl von Sonaten Domenico Scarlattis sind, wie es auch bei den italienischen Klaviersonaten von Alberti, Durante und Paradies üblich war, paarweise angeordnet. Die zusammengehörigen Sonaten besitzen ungefähr den gleichen Tonumfang oder dieselben Charakteristika, aber in jedem Fall die gleiche Haupttonart‚ auch wenn die eine Dur, die andere Sonate in Moll steht. Das heißt nicht, dass ein Satz nicht für sich allein gespielt werden kann, es tritt dadurch jedoch deutlich Scarlattis Absicht hervor, durch diese Zusammenkoppelung‚ die in einigen Fällen auch aus drei Sätzen besteht, größere Zusammenhänge zu schaffen, als es ein einzelner Satz könnte. Hierzu bemerkt Kirkpatrick:’.

“… Die eigentliche Aussage mancher Scarlatti- Sonate wird erst durch die Verbindung mit ihrem Pendant ermöglicht. Die Beziehung zwischen den beiden Sonaten eines Paares beruht entweder auf dem Kontrast oder der Ergänzung. Die sich ergänzenden Sonaten können dabei eine gewisse durchgängige Einheitlichkeit des Stiles oder der instrumentalen Haltung aufweisen. Oder die harmonische Farbigkeit ist sehr ähnlich. (Man vergleiche zum Beispiel die Sonaten 106 und 107, die beide in F—Dur stehen und trotzdem um f-moll und dessen Parallelen kreisen.) Bei den kontrastierenden Sonatenpaaren kann ein schneller Satz auf einen langsamen folgen (Sonaten 544 und 545), oder ein einfacher, meist langsamer Satz dient als Einleitung zu einem komplizierteren (Sonaten 208 und 209). Oder nach einem kunstvolleren‚ konzentrierten Satz kommt ein einfacher, leichter Satz, zum Beispiel ein Menuett‚ das wie eine Art Nachtanz wirkt (Sonaten 470 und 47l).“*11)

Dieser Gesichtspunkt kann jedoch für die Bearbeitungspraxis nur von geringer Bedeutung sein, da sich von den Sonaten-Paaren leider nur selten beide Sätze für die Gitarre übertragen lassen. Aber wenn die Möglichkeit der paarweisen Übertragung auch nicht sehr groß ist, sollte dieser Aspekt nicht ganz außer Acht gelassen werden, da sich dort die Kriterien für eine inhaltlich sinnvolle Zusammenstellung ableiten lassen, wie sie der Komponist praktizierte. Dies ist bei der

Auswahl von Gitarrentranskriptionen in der Konzertpraxis von außerordentlicher Wichtigkeit, damit sich bei der Zusammenstellung einzeln transkribierter Sonaten keine willkürliche Aneinanderreihung ergibt.

* 11) R.Kirkpatrick, Domenico Scarlatti, Bd. I, S.173.